Unser Bauernhof mit all seinen Gebäuden und unsere große Wiese, die so genannte „Bruckwiese“ befinden sich direkt neben einander und bilden so ein zusammenhängendes Grundstück. Auf einer Länge von 120 Metern an der Südseite entlang fließt unser Bach (die Schwabach) direkt am Grundstück vorbei. Genau in der Mitte verändert der Bach um ca. 45 Grad seine Flussrichtung. Deshalb ist unser Grundstück wie in einer Kurve nach außen gebogen. Junge, aber auch bis zu 100 Jahre alte Erlenbäume säumen beiderseits unseres Flüsschens schon von der Mühle her kommend bis zu uns und noch die gesamte Kurve entlang ganz natürlich und doch sehr eindrucksvoll den Wasserlauf. Zur Bachseite sind die Wurzelstöcke dieser Bäume, welche im Laufe mehrerer Jahrzehnte schon etliche Hochwasser-, aber auch schon niedrigste Wasserstände mehrmals erlebt hatten, vom Wasser sauber ausgespült worden. Aber auf der Wiesenseite sind sie so fest und tief im Boden verwurzelt und verankert, dass sie jeden Sturm und auch Hochwasser trotzten und standhielten. Hier muss sich das Wasser zwischen den beiderseitigen Baumreihen durchschlängeln. Sogar in der Kurve bestimmen die Erlen die Richtung des Wasserlaufes. Direkt in dieser Kurve, also genau in der Mitte der Biegung, wo der Bach am schmalsten ist, stehen die ältesten und kräftigsten Erlen. Ihre dicken, kräftigen Äste und Zweige überdachen teilweise den ganzen Bach im Flussbett.
Mein Freund Martin und ich hatten vor etwa eineinhalb Jahren genau an dieser Stelle die Superidee, den Bach mit einem Hängeseil von einem Ufer zum anderen zu überqueren. Leider waren meine Eltern absolut nicht begeistert von unserem Vorhaben und strikt dagegen. Außerdem fehlte uns auch ein geeignetes Seil, um unseren Plan verwirklichen zu können. Aber wie der Zufall manchmal mitspielt, fanden Martin und ich eines Tages oben im Wald, wo im vergangenen Frühjahr amerikanische Soldaten eine Übung abgehalten haben, ein gut erhaltenes, dickes etwa 6 Meter langes Hanfseil. Zuversichtlich, meine Eltern mit diesem Seil doch noch umstimmen zu können, schleppten wir beide das Seil nach Hause. Tagelang bearbeiteten wir bei jeder günstigen Gelegenheit mit Bitten und Betteln meinen Vater, das Hängeseil festmachen zu dürfen. „Also gut! Das Seil ist stabil und dick, wir binden es zuerst einmal unten an einen Baumstamm fest und ziehen dann zu dritt mit aller Gewalt wie beim Seilziehen dagegen. Wenn dann nichts aufreißt oder ausfranzt, dann helfe ich euch beim Anbringen oben am Baum.“ So äußerte sich mein Vater zum ersten Mal positiv nach tagelangem Drängen von uns beiden.
An einem heißen Sommertag holte mein Vater die lange Leiter aus unserer Scheune, zog seine Kleidung bis auf die Unterhose aus, stellte die Leiter mitten im Bach auf und lehnte sie an einem äußerst dicken, relativ flach abstehenden Ast, der in ungefähr 4 Meter Höhe genau über die Schwabach ragte, an. Martin und ich zogen sich ebenfalls bis auf die Unterhosen aus und halfen das Seil, welches mein Vater etwa zu einem Drittel auf die Schultern genommen hatte, durch die Schwabach und dann meinem Vater folgend auf die Leiter nach oben zu transportieren. Vati wickelte das Seil zweimal um die seiner Meinung nach geeignete Stelle, verzurrte dann mit mehreren Knoten das dicke Seil. Sicherheitshalber band er zusätzlich noch mit einem kleinen Strick die dicken Knoten unseres Ami-Seiles fest zusammen, damit sich diese nicht lockern konnten. Bevor Vati die Leiter zurück brachte, hängte er sich etwa 1,5 Meter über dem Wasser der Schwabach an das Seil und sagte zu uns: „Hängt euch ebenfalls mit dran.“ Als wir alle drei am Seil hingen, zerrte und ruckte mein Vater mit all seiner Kraft und Einsatz seines gesamten Körpergewichts am Seil. „Klettert wieder zurück auf die Leiter, der Ast und das Seil haben unseren Test überstanden,“ forderte Vati uns auf und stieg anschließend selbst die Leiter hinab ins Wasser. Mit einem oder zwei Meter Anlauf nahm Vati Schwung und schwebte als erster von unserem Ufer auf das gegenüber liegende Ufer hinüber. „Das Seil passt wirklich fast zentimetergenau, wir haben beim Festbinden perfekt die Mitte gefunden,“ stellte mein Vater mit Genugtuung fest, als er wieder auf unserer Seite zurück war. Bevor Vati uns das Seil übergab, teilte er uns mit ganz ernster Miene folgendes mit: „Es gibt ein paar Regeln, die eingehalten werden müssen, wenn nicht, ist das Seil sofort wieder weg. Als erstes: Nie bei Hochwasser benutzen, auch wenn ihr beide jetzt schwimmen könnt. Hier in der Kurve sind die Strömungen bei Hochwasser unberechenbar. Zweitens: Nur im Sommer, im Winter auf keinen Fall. Drittens: Bei Gewitter, Wind oder stürmischem Wetter darf das Seil ebenfalls nicht benutzt werden. Im Krieg, als Soldat habe ich schon viele Bäche und Flüsse überquert, ich konnte damals schon sehr gut schwimmen. Wasser kann immer gefährlich werden, egal ob hier in der seichten Schwabach oder in einem Weiher draußen. Meistens ist es Leichtsinn oder Sorglosigkeit, was die Gefahr hervorruft. Man braucht keine Angst vor dem Wasser zu haben, wenn man ihm mit gebührendem Respekt begegnet.“ Mit einem deutlichen Kopfnicken und einem leisen „Ja, in Ordnung Herr Winkler, gaben wir anerkennend Bescheid, dass wir alles verstanden haben, bevor Martin und dann ich am Seil hängend von einem Ufer zum anderen schwebten und auch wieder zurück. Der Weg zu unserem Geheimversteck in der wilden Holunderhecke am Melbenacker draußen war mit der Benutzung unseres Seilübergangs von ca. 800 Metern auf etwa 500 Meter reduziert worden, denn wir ersparten uns den Weg über die Brücke. Das Seil wurde nach jeder Benutzung entweder auf unserer Seite oder am gegenüber liegenden Ufer an einem Baum fest gebunden. So hing es nie über dem Bach und war immer einsatzfähig. In diesem Jahr ging unser Weg ganz häufig hier her. Wir fühlten uns wie Tarzan als König des Urwaldes, wenn wir mit dem Seil von einem Ufer zum anderen über das Wasser schwebten. Schließlich hatten wir dieses Seil gefunden und heran geschafft. Der Übergang war also unser Verdienst. Hier unter den Erlen floss das Wasser immer etwas schneller, als weiter unten oder oberhalb der Mühle im Mühlenbach und so war hier der Wasserstand den ganzen Sommer über relativ seicht. Das Bachwasser war damals, wenn es nicht gerade geregnet hatte, ganz sauber und klar, Forellen, Weißfische, manchmal auch Flusskarpfen fühlten sich hier im Schatten der Bäume besonders wohl. In den vom Wasser ausgespülten Wurzelstöcken der direkt am Bach wachsenden Bäume gab es richtige kleine Ausbuchtungen zwischen den Wurzeln unter Wasser, in denen sich ab und zu auch Forellen oder Flusskarpfen aufhielten oder versteckten. Als ich vor ca. 2 Jahren dies zum ersten Mal bemerkt hatte und mich das Jagdfieber oder besser das Fischerblut gepackt hatte, brachte ich zum ersten Mal einen Flusskarpfen, den ich nur mit meinen eigenen Händen gefangen hatte, in unsere Küche mit nach Hause, wo ich meine Mutter und Oma etwas überrascht, aber gar nicht begeistert über mein Jagdglück vorfand. „ Den kannst du gleich wieder in den Bach werfen, der ist nämlich gestohlen,“ schickte mich vorwurfsvoll meine Mutter wieder zurück. „ Den habe ich mit meinen eigenen Händen unter einem Baumstock erwischt und ihr wisst genau, wie gerne ich Fisch esse. Ich frage Opa, vielleicht will er den Fisch mit mir essen.“ Opa war schon immer ein leidenschaftlicher Fischesser. Mit meinem Karpfen im Eimer suchte ich also draußen nach Opa. „ Also gut, dieses eine Mal, aber nur dieses eine Mal backe ich dir und Opa diesen Karpfen, du brauchst nie wieder einen Fisch vom Bach bringen, denn deine Mutter hat schon recht, der Fisch ist gestohlen. Wir haben kein Fischrecht in der Schwabach. Das gibt nur Probleme.“ Damit machte mir Oma damals eine besondere Freude. Mit einem großen Messer schlachtete Opa meinen Karpfen und zeigte mir, wie so ein Fisch fachgerecht zerlegt und die Innereien ausgenommen werden. Seit dem kann ich vollkommen selbständig Karpfen und Forellen schlachten. Wahrscheinlich war genau dieser Karpfen der Beste in meinem ganzen Leben, den Opa und ich je zur Hälfte gemeinsam verspeisten. Bei der Heuernte jedes Jahr im Juni mähte mein Opa die leichte Böschung zum Flussbett hinunter immer mit der Sense. „ Hier wachsen die saftigsten und würzigsten Gräser der ganzen Wiese.“ So klärte mich Opa auf, als ich ihm mit einem Holzrechen half, das von ihm gemähte Ufergras auf die Wiese hinauf zu befördern, wo mit dem Traktor die ganze Arbeit wie Grasmähen, Heuwenden, Schwaden und Heimfahren erledigt werden konnte. Im Schatten der Bäume, wo das gleichmäßige Rauschen und Plätschern des Wassers zu hören war, spürte man besonders an heißen Sommertagen die wohltuende Kraft der Natur deutlich. Regnete es im Sommer mehrere Wochen nicht, so nutzen wir einen Teil vom Bachwasser zur Beregnung unserer Tabak-, Kartoffel- und Rübenfelder. Beregnungsrohre verlegen und die Wasserpumpe mit dem Traktor aufstellen, das war keine so leichte Arbeit und mein Vater war froh, wenn wir Kinder ihm dabei halfen. Mit etwas Arbeit am Bauernhof und ein wenig Herumstreunen in Wald und Flur, wo auch der Bach dazu gehört, verging dieser Sommer und auch der Herbst sehr schnell. Die Schule war nicht das Allerwichtigste für uns Bauernkinder. An den letzten Novembertagen begann eine Regenzeit, die erst Mitte Dezember wieder aufhörte. Wie so oft gab es wieder keine weiße Weihnacht. Aber zwischen den Feiertagen, am 2. und 3. Januar wurde es richtig kalt. Mit mehr als 10 Grad minus in der Nacht, begannen die Weiher zu gefrieren. Die Schwabach war noch offen, denn bis fließende Gewässer zufrieren, bedarf es mindestens 15 bis 20 Grad minus. An einem kalten Januartag beobachteten Martin und ich von unserer Bruckwiese aus, wie sich gegenüber auf der Staatsstraße ein Unfall ereignete. Auf der stellenweise glatten und etwas vereisten Fahrbahn war ein VW-Käfer wegen zu hoher Geschwindigkeit ins Schleudern geraten und durch den seichten Straßengraben 20 Meter in den Wiesengrund abgerutscht. Um nichts zu verpassen, eilten wir sofort mehr aus Neugierde wie aus Hilfsbereitschaft dem verunglückten Fahrzeug entgegen. „ Wir nehmen die Abkürzung mit dem Seil,“ sagte ich zu Martin. Als ich das um den Baum gebundene Seil holte, fest in beide Hände nahm und damit etwa 2 Meter Anlauf nahm, spürte ich irgendwie unbewusst, das Seil liegt heute steifer und kälter in den Händen. Aber mein Kopf und all meine Gedanken beschäftigten sich nur mit diesem Unfall auf der anderen Seite. So rannte ich los, klammerte mich fest an das Seil, um mit dem schon so oft geübten Schwung das andere Ufer zu erreichen. Erst jetzt, als ich mit aller Kraft das Seil fest hielt, spürte ich in den Händen die Kälte und die Glätte des wie zu einem Eiszapfen gefrorenen Seiles. Ich hatte keine Chance, der auch mit größter Anstrengung erzeugte Druck in den Händen, konnte das Abrutschen am Seil oder anders gesagt an diesem langen Eiszapfen nicht mehr verhindern. So platschte ich mit meiner kompletten Winterkleidung genau in der Mitte unseres Baches in das eiskalte Wasser. Durch die vergangene Regenzeit war der Wasserstand 30 bis 40 Zentimeter höher als normal. Nachdem ich einmal komplett untergetaucht war und genau in der Mitte unseres Flüsschens wieder zum Stehen kam, stand mir das schmutzige und eisige Wasser fast bis zu den Achselhöhlen. Ganz verdutzt und irgendwie auch geschockt, spürte ich von den Beinen ausgehend eine bedrohlich um sich greifende Kälte. Mit den Füßen uns Beinen stemmte ich mich gegen die Strömung. Mit den Händen und Armen ruderte ich dem Ufer entgegen, wo Martin fast genau so verdutzt dastand und nach mir schaute. Mit ganz kleinen Schritten und die Beine ein Stück weit auseinander, so dass an beiden Beinen das Wasser vorbei strömen konnte, versuchte ich das Ufer unserer Bruckwiese zu erreichen. Obwohl am Ufer das Wasser nicht mehr so tief war und ich nur noch etwa bis zur Gürtellinie im Bach stand, gelang es mir nicht, die gefrorene Böschung vom Wasser heraus hochzuklettern. Alle Gräser und Böschungspflanzen waren gefroren und vereist und konnten mir deshalb keinen festen Halt geben. Als ich schon ganz verzweifelt immer wieder an einer anderen Stelle versuchte aus dem Wasser zu gelangen, hörte ich Martin wie er mir zurief: „Warte, warte ich habe hinter euerem Hühnerstall eine alte Schaufel gefunden, an der kannst du dich vielleicht heraus ziehen, wenn ich sie von oben her fest halte.“ Zuerst schnaufte ich ein paar Mal kräftig durch, dass Martin noch hier war und nicht die Nerven verloren hatte, machte mich etwas mutiger und zuversichtlicher, denn lange hätte ich in dem eisigen Wasser nicht mehr ausgehalten. Martin hielt mit aller Kraft den Schaufelstiel fest und stemmte sich mit seiner ganzen Gewalt entgegen. So konnte ich mich von unten an der Schaufel haltend an dem Stiel entlang nach oben am Böschungsufer vorbei aus dem Wasser ziehen.
„ Du bist käsweiß“ sagte Martin zu mir als ich oben auf der Wiese neben ihm stand. Mit bibbernder Stimme antwortete ich: „Das ist auch ein Wunder, das Wasser ist eiskalt, meine Beine sind fast schon steif.“ Martin stützte mich und half mir nach Hause zu kommen. Dabei wurde auch er noch nass. Langsam wurden die Ärmel meines Kittels immer steifer bei diesen frostigen Temperaturen. Als wir endlich oben an der hinteren Haustüre vor unserem Haus standen, waren meine Schuhpendel vollständig gefroren. Als ich die Haustüre öffnete und Oma uns beide sah, war sie zum ersten Mal seit dem ich sie kannte, sprachlos. „In die Küche mit euch“ zeigte Oma uns an und ging an uns vorbei und schrie sofort nach meinen Eltern. Die kamen sofort angerannt, denn am Ton und der Lautstärke hörte man deutlich eine Art Hilferuf heraus. In der Küche zogen mich meine Eltern gemeinsam so schnell es nur ging vollkommen nackt aus. „Vielleicht sollten wir doch unseren Doktor verständigen, der Manfred ist ja völlig geschockt, hoffentlich hat er keine Erfrierungen an Bein oder Füßen“ stellte Oma besorgt um mich fest. Mein Vater forderte mich auf, ein Stück weit herum zu laufen und betastete meine Zehen und Füße. „Da brauchen wir keinen Arzt, lass besser die Badewanne mit kaltem Wasser einlaufen, so schlimm ist das nicht, da habe ich in Russland schon ganz andere Sachen gesehen und erlebt. Oma ging sofort ins Badezimmer und ließ Wasser einlaufen. „Kein kaltes Wasser mehr“ sagte ich ganz leise mit ängstlicher Stimme. Mein Vater wusste aus seiner russischen Kriegs- und Gefangenschaftszeit, wie man mit Unterkühlungen umgeht und stellte mich in die Badewanne. Zu meiner Überraschung, fühlte sich das nicht beheizte kalte Wasser fast ein wenig warm an. Sofort begann meine Mutter mit Shampoo und Seife mich von Kopf bis Fuß mit diesem lauwarmen Wasser zu säubern. Oma schürte mit klein gehacktem Holz den Badeofen an. „Vielleicht brauchen wir später doch noch warmes Wasser“ stellte sie mehr fragend als bestimmend fest. Meine nassen Klamotten verbreiteten in der warmen Küche einen nach Schlamm und Fisch riechenden Gestank. Bis ich wieder in die Küche zurück kam und dort vollkommen neu eingekleidet wurde, hatte aber Oma schon alles aufgeräumt. Martin hatte sich noch bevor ich ganz ausgezogen war leise davon geschlichen. Mein Vater hatte an seiner nassen Kleidung bemerkt, dass er mir geholfen hat und ihn vermutlich deshalb auf die Schultern geklopft. „Dieses verdammte Seil, ich war von Anfang an dagegen.“ Mein Vater zuckte etwas zusammen, er wusste nicht, was er meiner Mutter darauf antworten sollte, bis er endlich „Ja, du hast recht“ heraus brachte. Oma war erleichtert, als sie bemerkte, dass es mir wieder besser ging, was sie sich aber auf keinen Fall anmerken lassen wollte.
„Du gehst sofort ins Bett, du musst dich wieder vollständig erwärmen, mit so einer Unterkühlung ist nicht zu spaßen. Alles andere klären wir morgen früh.“ Anscheinend machte sich mein Vater selbst irgendwie Vorwürfe mit dieser Hängeseilanbringung am Bach, denn sonst hätte er mich ganz anders geschimpft und womöglich auch bestraft. Oma richtete mein Bett her, deckte mich ordentlich zu, setzte sich mit einem Stuhl unten zu meinen Füßen hin und rieb und rubbelte meine Füße und Beine so lange, bis sich diese wieder schön warm anfühlten. Als mir nach einer Weile Oma eine Tasse heiße Husten- und Erkältungstee ans Bett brachte, dämmerte es draußen schon. „Den trinkst du jetzt ganz langsam, immer nur schluckweise und dann versuchst du zu schlafen. Ich bin mir nicht sicher, ob du ein wenig fieberst.“ Der heiße Tee wärmte von innen, das kuschelig warme Bett war jetzt genau das Richtige. So fiel ich mit Anbruch der Dunkelheit in einen tiefen und festen Schlaf. Nur mit einer kurzen Hose bekleidet, es war mitten im Sommer, stand ich in einem der drei Abflussbecken, welche sich neben der Mühle befanden. Die Schleuse oben am Mühlenbach war geschlossen und das ganze Wasser vom Bach musste, wie fast immer, durch die Mühle. Der Höhenunterschied zwischen dem einlaufenden Wasser und dem aus der Mühle abfließenden Wasser, beträgt fast vier Meter. Das hier herabstürzende Wasser hält, wenn es sein muss, bei Tag und Nacht die Mühlenräder in Bewegung. Treten Probleme in der Mühle oder an den Wasserturbinen im Mühlenkeller auf, dann kann der Müller per Hand die Schleusen oben am Mühlenbach öffnen und das Wasser rauscht über die drei Stufen und den drei Abflussbecken außerhalb neben der Mühle diese fast vier Meter Höhenunterschied zum unteren Bach hinunter.
Im letzten der drei Abflussbecken, in dem ich stand, war das Wasser nur etwa einen halben Meter tief. Eine wunderschöne große Forelle stand in der Ecke von diesem 1,5 x 3,0 Meter langen Becken. „Hier habt ihr Kinder nichts verloren, ich will keinen mehr von euch hier an den Wasserbecken sehen, falls doch, dann gilt „wer nicht hören will, muss fühlen.“ So drohte Martin und mir der Müllermeister vor mehr als einem Jahr mit einem dicken Haselnussstock in der Hand, als wir hier mit einem Fischhammer fischten. Aber dieser außergewöhnlich großen Forelle in dem kleinen und seichten Wasserbecken konnte ich unmöglich widerstehen. Der Reiz und die Lust, einen solch besonderen Fisch in den Händen zu halten, waren viel größer als meine Bedenken und Angst vor dem Müller. Doch der Fisch war putzmunter in dem klaren und sauberen Wasser und dachte im Traum nicht daran in meiner Bratpfanne als Leckerbissen zu landen. Erst als nach längerem Hin- und Herwühlen das Wasser im Becken trüb und schmutzig wurde, konnte die Forelle nicht mehr so geschickt und flink agieren und ich bekam endlich meine Chance.
Nun bemerkte ich, wie sich auf einmal das Wetter verändert hatte. Die Sonne war hinter dicken, dunklen Gewitterwolken verschwunden. Ca. einen oder zwei Kilometer westlich, also wo der Mühlenbach herkommt, war der Horizont vor lauter Wolken und Starkregen nicht mehr zu sehen. Einmal noch das Becken mit beiden Händen durch kämmen, bevor es auch hier regnet und womöglich der Bach mit Regenwasser zu schnell anschwillt, dachte ich bei mir und spürte wieder die große Forelle. Genau in diesem Moment, wo ich mit geübtem Griff den Fisch fest in beiden Händen hielt und dem sein heftiges Zappeln und Sträuben langsam immer schwächer wurde und er sich gefangen gab, schwappte ganz oben das Wasser vom Mühlenbach über die dicken Bretter der Schleuse ins erste obere Sammelbecken. Sekunden später plätscherte es schon ins zweite Mittelbecken und kurze Zeit später strömte das Wasser zu mir herunter ins unterste Becken. Vor lauter Schrecken ließ ich meine Superforelle sofort ins Wasser fallen, denn ich bemerkte, wie sich langsam die Schleuse öffnete. Vom Müllermeister war weit und breit nichts zu sehen, es kann doch nicht sein, dass sich die Schleuse von selbst öffnet. So blickte ich ängstlich nach oben. Die drei Stufen, welche von Sammelbecken zu Sammelbecken jeweils einen Meter Höhenunterschied aufwiesen, verschwanden schnell hinter den neu entstandenen Wasserfällen. Für mich gab es kein Entkommen mehr, die Strömung nahm alles mit, was sich ihr in den Weg stellte und ich schwamm so gut es ging mit ihr den Bach hinunter. Vom Altbach, vom Flutgraben und von der Dorfstraße, von überall strömte Wasser herbei. Der vor kurzem eingesetzte Regen steigerte sich zu einem Wolkenbruch, so gab es von allen Seiten nur noch Wasser um mich herum. Vollkommen hilflos und schwach versuchte ich mich über Wasser zu halten. Aber unten an den alten dicken Erlen, wo der Bach in der Kurve seine Richtung ändert, hatte sich im Wasser ein Wirbel gebildet. Zuerst planschte ich an dieser Stelle einmal im Kreis mit herum. Dann spürte ich, wie sich alles um mich herum drehte, so als ob ich in einer riesigen Badewanne in den Wirbel des Ablaufs geraten wäre, verschwand ich nach unten im Wasser. Sofort hatte ich die Orientierung verloren und wusste auch nicht mehr, wo oben oder unten ist. Schwach und absolut machtlos hatte ich einer solchen Naturgewalt nichts entgegen zu setzen und wusste, jetzt bin ich verloren. Völlig orientierungslos nahm mich die Strömung unter Wasser ein Stück weit flussabwärts mit, bis ich erneut von einem weiteren Strudel ergriffen wurde. Wieder drehte sich alles um mich herum, aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, mich schleudert es nach oben. So, als ob mich der Bach ausgespuckt hätte, lag ich zu meiner eigenen Überraschung auf einmal oben am Ufer auf unserer Bruckwiese, hustete das verschluckte Wasser heraus und schnappte nach Luft. Ein wenig erleichtert sah ich mich überall um. Aus dem behäbigen, ruhigen Bächlein hatte sich in kürzester Zeit ein reißender Fluss entwickelt, der immer weiter anschwoll und wenn es so weiter geht, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis er auch den Wiesengrund überschwemmt hat. Auf einmal wurde mir klar, nichts wie weg von hier und zurück in unser Haus, ich muss mich in Sicherheit bringen. Schon beim ersten Versuch wurde mir bewusst, meine beiden Beine sind lahm und nicht mehr zu gebrauchen. In drei oder vier Meter Entfernung, abseits vom Fluss, sah ich einen kleinen Heuhaufen. Nur mit den Armen und Händen angetrieben, robbte ich dieser leichten Erhöhung entgegen und schaffte es auch hinauf. Von hier aus konnte ich alles überblicken, den ganzen Wiesengrund, den mit Erlen gesäumten Flusslauf, den Mühlenbach von oben und den Flutgraben von der Seite kommend. Es hörte einfach nicht zu regnen auf, der ganze Wiesengrund wurde mit schmutzigem Wasser überflutet. Schon bald fühlte ich mich auf meinem Heuhaufen gar nicht mehr wohl und auf keinen Fall sicher. Langsam, aber unaufhaltsam, breitete sich die Flut immer weiter im Wiesengrund aus. Auch der Heuhaufen, auf dem ich lag, wurde vom Wasser eingeschlossen, bis nur noch die oberste Schicht auf der ich lag, heraus schaute. Der ganze Wiesengrund war ein großer See. Als ich längere Zeit auf diesen neu entstandenen See starrte, erkannte ich plötzlich relativ deutlich, wie genau dort, wo sich das eigentliche Flussbett befindet, also zwischen den Erlenzeilen, dann der Kurve entlang und auch weiter so wie der Bach normalerweise verläuft, den alten ursprünglichen Bach, der hier schon seit Jahrhunderten oder sogar seit Jahrtausenden seine Heimat hat. Mit ganz sauberem, klarem Wasser, glänzte er aus dem dreckigen Seewasser heraus. Mit diesem kristallklaren Wasser wirkte der Bach freundlich und lebendig. Dann schlug er ein paar größere Wellen, daraus entstand irgendwie ein Gesicht mit Augen, Nase, Mund und weißen Haaren. Genau diese Augen schauten zu mir herüber und eine kräftige Stimme erklang: „Du brauchst keine Angst zu haben, du musst nur laut und deutlich zu mir sagen, ich habe Respekt vor dir und dem vielen Wasser, dann wird alles gut.“ Natürlich hätte ich sofort darauf geantwortet, aber ich brachte keinen einzigen Ton heraus. Alle Körperteile und dazu gehörten auch mein Mund und meine Stimme, waren gelähmt und zu nichts mehr zu gebrauchen, nur mein Verstand funktionierte noch. Mit all meiner Kraft und Energie, die noch in mir steckte, versuchte ich diesen einzigen Satz heraus zu bringen. Dann endlich, so als ob eine dicke Eisdecke durchbrochen wäre, platzte es laut und deutlich aus mir heraus. „Ich habe Respekt vor dir und dem vielen Wasser.“ Zur Sicherheit wiederholte ich diesen Satz noch zweimal. „Es ist schon gut, alles wird gut, beruhige dich, Manfred.“ Dann spürte ich eine Hand auf meiner Stirn. Zu meiner Überraschung lag ich nicht draußen auf dem kleinen Heuhaufen, sondern daheim in meinem Bett. Dann hörte ich, wie meine Mutter zu allen, die um mein Bett herum standen sagte: „ Der Manfred hat bestimmt Fieber, sein Bett ist auch ganz nass geschwitzt.“ Dabei nahm sie ihre Hand von meiner Stirn. Ganz langsam wurde mir bewusst, ich habe alles nur geträumt und mit meiner lauten Antwort an unserem Bach das ganze Haus aufgeweckt, denn auch mein Vater und sogar mein großer Bruder standen am Bett. „Alles wird gut, Manfred, du hast nur schlecht geträumt,“ sagte Oma zu mir und vergewisserte sich mit ihrer Hand auf meiner Stirn, ob ich tatsächlich Fieber habe. Meine Mutter wechselte das nasse Bettzeug. Oma holte im Keller ein Glas voll von den im Sommer eingeweckten Süßkirschen und gab mir nur den Saft davon in einer großen Tasse zum Trinken. Dabei sagte sie zu mir: „Der wirkt fiebersenkend und besser wie jede Medizin.“ Skeptisch probierte ich davon und war angenehm überrascht, wie gut er schmeckte. Als ich ausgetrunken hatte, meinte Oma zu mir: „Du musst noch einmal beten, Manfred und beim Einschlafen denkst du an eine schöne Blumenwiese am Waldrand mit schneeweißen Schafen drauf und wenn du alle Schafe gezählt hast, wird morgen früh alles wieder in Ordnung sein.“ Nach zwei oder drei Tagen stellte mein Vater unsere große Aluleiter an der Erle auf, an der das Seil befestigt war. „Du kannst unten die Leiter festhalten, damit sie nicht wegrutscht,“ erklärte mir Vati bevor er mit der Motorsäge den starken Ast mit samt dem angehängten Seil absägte. Ein paar Meter flussabwärts zogen wir mit einer langen Stange die mit einem Haken versehen war, den Ast und das Seil vom Bach auf unsere Wiese heraus. Als wir gemeinsam den Ast zu Brennholz zersägten und das Amiseil zusammenlegten, bemerkte mein Vater meine traurige Stimmung und sagte ganz nebenbei zu mir: „Das Seil muss nicht unbedingt wegen dir oder Martin weg. Die Gefahr, dass andere Kinder vom Dorf ebenfalls das Seil benutzen und dabei irgendwie ins Wasser fallen oder verunglücken, ist viel zu groß. Das wurde mir bei euerem Unfall letzte Woche erst richtig bewusst.“ Dieser Traum hatte mir klar gemacht, dass das Wasser oder die Natur viel stärker sind, als wir Menschen.